Analyse

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Analyse (c) Martin GriesSeit er hören konnte, versuchte er zu verstehen, wie das mit der Sprache vor sich geht. Sie verwirrte ihn und war nicht greifbar.
Er versuchte das Problem zu ignorieren solange es ging. Aber irgendwann war der Aufwand Sprache zu umgehen so groß, dass er den Entschluss fasste, Zeit und Energie in die Lösung zu investieren. Wenn er sich nur auf das konzentrierte, was er begriff, würde sie mit gewisser Wahrscheinlichkeit beschreiblich.
Es beschloss mit seiner Analyse bei der kleinsten Einheit zu beginnen.
Für ihn lag es auf der Hand, dass diese Einheit Geraden und Bögen waren. Aber mit dieser Auffassung schien er allein zu stehen. Kaum ein Typograf lieferte eine klare Schrift, die sich ausschließlich mit Gerade und Kreisteilen beschreiben ließ.
Er war enttäuscht, dass er mit Buchstaben anfangen musste. Sie waren schon komplex genug.
Über 16% der Sprache bestand aus „e“s. „n“s brachten es nur auf knapp 10%. „j“s, „y“s, „x“s und „q“s zusammen nicht mal auf 1%. Was sollte dieses Ungleichgewicht? Wozu führt man ein neues Zeichen ein, wenn man nicht vorhat, es zu benutzen?
Und dann das „ß“. Zählte es als ein Buchstabe oder waren es schon zwei?
Kam er so Sprache nahe? Was, wenn er Extreme untersuchte? Lange Zeit dachte er Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung wäre mit 36 Buchstaben das längste Wort. Es war das längste, das er im Lexikon fand. Bis zu dem morgen, als er die Zeitung aufschlug und dort auf Schauspielerbetreuungsflugbuchungs-statisterieleitungsgastspielorganisationsspezialist fand. 86 Buchstaben.
Wie sollte er etwas messen was so widerspenstig war? Erst später am Tag kam ihm die erschreckende Erkenntnis, das diese Sprache selbst seine Zahlen zu etwas unverständlichen machen könnte. Neunundzwanzigmillardenachthundertsiebenunddreizig-millionensiebenhundertvierundzwanzigtausendzweihundert-siebenundachtzig hatte allein 120 Buchstaben und war zu einem ungezähmten Ungeheuer verkommen. Er hätte mit 11 Zeichen dasselbe gesagt. 10,9fach effektiver.
Und wenn er eine größere Einheit betrachtet landete er in einer Sackgasse. Was hatte es zu sagen, dass „Mann“ häufiger als „Frau“ verwendet wurde, aber „Mutter“ häufiger als „Vater“. Aber Substantive waren noch nicht mal das Problem. Wieso gab es so viele „er“s und sowenige „ich“s? Wieso schrieb man eher von „müssen“ als von „wollen“?
Und wie sollte man in Wörtern mit fünf Vokalen wie „Treueeid“ oder „zweieiig“ eine Struktur erkennen und wieso hatte „Borschtsch“ 8 Konsonanten, wenn das per Definition sowieso keiner aussprechen kann?
4 Monate, 2 Wochen, 3 Tage, 17 Stunden, 27 Minuten und 15 Sekunden nach dem er seine Analyse begonnen hatte, kam er zu dem Schluss, dass Sprache kleinartig war und verstummte.

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