Nacht der Poesie
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erfindlich erfindlich
Bücher & Photos & Prosa-Miniaturen von Martin Gries

wie kommt das ich in das gedicht
um mich geht`s darin doch nicht
wie kommt das zählen ins erzählen
mit bloßen zahlen fesselt die geschichte nicht
wie kommen die schichten in geschichten
lage über lage wieder und wieder erzählt
wie kommt oma in romane
las sie mir doch gedichte vor
wie kommt die eile in die zeile
hat sie nicht alle zeit der welt
wie kommt das rosa in die prosa
schreibst du sie doch in schwarzweiß
wie kommt claire ins erklären
sie hatte nie keinen schimmer nicht
wie kommt das läutern ins erläutern
wer wäscht wessen weste weiß
wie kommt der ort in das wort
ist es doch flüchtiger als ein punkt
wie kommt die endung in die wendung
wo führt das uns beide einmal hin
wie kommt das immer in das zimmer
führt die tür doch in dein abundzu
da entdecke ich dich im gedicht
und weiß um mich dreht´s sich nicht

Ich weiß, es ist nicht leicht zu erklären, dass dieses Gedicht nicht von mir ist. Ellen hat es geschrieben. Ellen ist eine Romanfigur von mir – aus einem Roman mit dem Namen „freilaufende dichter*innen“. Der Roman wurde bislang nicht veröffentlicht und es sieht auch nicht so aus, dass ein Verlag das machen möchte. Über die Suche nach einem Verlag für diesen Roman hat meine Agentur die Zusammenarbeit mit mir eingestellt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich zu viel über Straßenpoesie nachdenke und zu wenig über Trendthemen.

Als Frederike mich zur „Nacht der Poesie“ nach Witzenhausen eingeladen hat, habe ich mich gefragt, was ich da auf der Bühne machen werde. Ich habe mich für eine Szene aus „freilaufende dichter*innen“ entschieden. Vier Jugendlichen bilden einen „Regenschirmchor“. Sie tragen in der Mitte eines sonnenbeschienen Platzes Gedichte vor. Sie stehen unter vier Regenschirmen mit den Rücken zueinander und lesen alle gleichzeitig vor.

Für Ellen ist es das erste Mal, dass sie Fremden ihre Gedichte vorträgt. Das fand ich für mich die passende Entsprechung, denn mir ging es genauso. Ellen schafft es, weil sie nicht allein ist. Keanu, Jules und Alicja sind bei ihr. Und die vier waren es, die mir zu Seite standen. Ich habe mir ihre Gedichte geliehen – die sie vorher von mir bekommen haben. Lage über Lage habe ich die Gedichte geloopt und so das Sounderlebnis eines „Regenschirmchors“ nachgeahmt.

Aufmerksame Leser*innen der Bücherpiraten-Newsletter erahnen, dass ich mir den „Regenschirmchor“ nicht ausgedacht habe. Das waren die realen Straßen-Poet*innen der Bücherpiraten. Jede einzelne Straßenpoesie-Methode im Roman ist ihrer Phantasie entsprungen. Ich habe gefragt, ob ich mir die Methoden für den Roman leihen darf, wenn ich die Personen und Beziehungen frei erfinden. Ich durfte das. Alle Straßenpoet*innen haben den Roman dann gelesen und für gut befunden – auch ohne Trendthema.

Die „Nacht der Poesie“ verzauberte im besten Sinne des Wortes. Einige Poet*innen trugen ihre Worte zu Musik vor. Andere Musik wurde begleitet von Worten. Bei noch anderen Auftritten waren Worte pur. Mehrere Generationen auf und vor der Bühne ließen sich einfach ein, auf die Gedichte und Gedanken der anderen.
Danke, Frederike, dass Du so einen Abend geschaffen hast.

Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, alle vier „freilaufenden dichter*innen“ eine eigene Stimme zu geben. Das müsst ihr selbst entscheiden. Deshalb gibt es zum Abschluss noch das Gedicht von Alicja.    

siehst du den regen der nicht fällt
spürst du den wind der nicht weht
hörst du das lied das ich nicht singe
ahnst du die zukunft die wir nicht haben

regen ist gefallen
früher
wind wehte
eben erst
mir war nach singen
da kannten wir uns schon
im taumel des ersten sehens
des ersten verstehens
die magie die überall lauerte
weil das einander erkennen so selig macht
da war mir nach singen
morgens vor dem zähneputzen
beim frühstück
auf dem rad
wenn ich dich sah
als ich an dich dachte
auch nachts
vor allem nachts wollte ich singen
lauthals ungebremst
da half nichts da war nichts zu machen
ich musste raus und rennen
bis keinen mein singen störte
empörte
ich schmetterte alles raus
unser zuzweit an diesem tag
meine einsame nacht
und unsere zukunft die ich erhoffte
erflehte ersehnte in der nacht
heiser und glücklich
müde und so wach
doch nach und nach
waren die treffen unkenntlich
kein erkennen kein verstehen
missverstanden ist schlimmer als ungehört
nun raubt mir nur das welken unserer zeit den schlaf

siehst du den regen der nicht fällt
spürst du den wind der nicht weht
hörst du das lied das ich nicht singe
ahnst du die zukunft die wir nicht haben

erfindliche Grüße
Martin

P. S.
In den kommenden Tagen erscheint von mir ein Artikel im „ICM Photography magazin“. Die deutsche Version könnt ihr hier lesen.


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Wenn ihr die Artikel in der Zeitschrift lesen wollt, gibt es den ab dem 15. Juni hier.

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